Advanced Systems Engineering – mehr Mindset als Tool!
Wie gestalten Unternehmen ihre Produkte und Dienstleistungen künftig effizient und nachhaltig? Mit Advanced Systems Engineering (ASE) arbeitet das Fraunhofer IEM an einem Leitbild, dass das Engineering ganz neu denkt. Dazu gehören innovative Methoden, neueste Technologien und vielversprechende Organisations- und Kooperationsformen. Kern des ASE ist ein interdisziplinärer Ansatz, der alle Beteiligten an einen Tisch bringt. Dr.-Ing. Harald Anacker, Abteilungsleiter Systems Engineering beim Fraunhofer IEM, wirbt im Interview für ein Umdenken im Engineering.
Was genau verstehen Sie unter dem Konzept Advanced Systems Engineering (ASE)?
ASE ist ein Konzept, das die erfolgreiche Entwicklung innovativer Produkte, Dienstleistungen und Produkt-Service-Systeme sowie deren Entstehungsprozesse fördert. Es umfasst die gesamte Wertschöpfungskette und vereint die Methoden des Systems Engineerings und des Advanced Engineerings, um komplexe Produkte und Dienstleistungen, auch bekannt als Advanced Systems, zu entwickeln.
Warum sollten Unternehmen sich mit ASE beschäftigen?
Es gibt mehrere Gründe dafür. Einerseits möchten wir auf die dramatischen Veränderungen in der Wertschöpfung der vergangenen Jahre aufmerksam machen, die auch in Zukunft weiterhin stattfinden werden. Es gibt mehr Akteure, die an der Wertschöpfung beteiligt sind, und die Produkte sind wesentlich komplexer geworden. Das prominenteste Beispiel ist sicherlich das Automobil. Während ein Fahrzeug im Jahr 2010 nur etwa zehn Millionen Zeilen Software-Code hatte, verfügen aktuelle nicht-autonome Fahrzeuge bereits über rund 100 Millionen Codezeilen.
Die Wertschöpfung beschränkt sich heute nicht mehr nur darauf, Autos zu verkaufen, sondern umfasst auch den Service und das gesamte Ökosystem rund um das Fahrzeug. Dazu gehören Funktionserweiterungen per Mausklick oder Telematikfunktionen, die es dem Fahrzeug ermöglichen, mit der Umgebung zu kommunizieren und zur Verkehrssteuerung beizutragen. All dies führt zu einer erhöhten Komplexität. Insbesondere das hochautonome Fahren (HAF) stellt aufgrund von Künstlicher Intelligenz (KI), Sensorik und Kamerasystemen eine bisher unerreichte Herausforderung dar. Produkte von heute und morgen verfügen über mehr Funktionen und Schnittstellen, was zu mehr Abhängigkeiten, Seiteneffekten und Fehlerquellen in der Entwicklung führt.
Und diese Komplexität ist in heutigen Produktentstehungsprozessen und den dazugehörigen Tools und Arbeitsabläufen nicht durchgängig abgebildet?
Ja, das stimmt – zumindest zum Teil. Bei vielen Projekten, die wir als Forschende begleiten, fällt uns immer wieder auf, dass einzelne Disziplinen gut aufgestellt sind und ihre jeweiligen Bereiche beherrschen. Beispielsweise haben Mechaniker:innen dank Systemen zum Produktdatenmanagement (PDM) oder Product Lifecycle Management (PLM) ihre Arbeit im Griff, und die IT- und Softwareentwickler:innen sind dank Application Lifecycle Management (ALM) gut aufgestellt. Doch es fehlt nach wie vor ein umfassendes, digitales Gesamtbild aller Teildisziplinen.
Ein Beispiel dafür ist ein Mähdrescher. Dieses Gerät besteht aus verschiedenen Komponenten wie Mechanik, Elektronik, Sensorik und Software, die alle miteinander kommunizieren und in Wechselwirkung stehen. Diese Bausteine sind durch eine Vielzahl von Verbindungen und Schnittstellen miteinander verbunden, sodass bei Änderungen ein koordiniertes Vorgehen erforderlich ist. Wenn beispielsweise ein neuer Sensor eingebaut wird, muss der:die Softwareentwickler:in darüber informiert werden, und der:die Mechaniker:in muss möglicherweise ebenfalls beteiligt werden, da sich die Änderung auf die Mechanik auswirkt. All dies muss parallel zur Entwicklung erfolgen. Leider wird diese Komplexität immer noch nicht von Anfang an berücksichtigt, und es wird oft sequenziell gearbeitet. Dadurch entstehen Fehler, die später schwer zu korrigieren sind. Die Folge sind Verzögerungen und ständige Schleifen in der Entwicklung.
Ist die Umsetzung eines durchgängigen Systems Engineering von Branche zu Branche unterschiedlich?
Ja, das ist sehr offensichtlich. Während die Luft- und Raumfahrtindustrie sowie die Automobilindustrie bereits sehr umfangreiche Methoden zur Bewältigung von Komplexität und Veränderungen einsetzen, ist in vielen anderen Branchen noch immer eine traditionelle Arbeitsweise vorherrschend. Oftmals wird zuerst das Design, dann die Funktionalität und erst anschließend die Software entwickelt. Insbesondere bei Herstellern von Werkzeugmaschinen ist dies unserer Beobachtung nach immer noch sehr verbreitet. Die Komplexitäten im Maschinenbau sind derzeit allerdings auch noch beherrschbar, da die Entwicklungsteams oft klein sind und die Kommunikationswege kurz sind, wodurch eine intensive Zusammenarbeit möglich ist. Ohne eine systematische Herangehensweise wird dies jedoch in Zukunft teuer werden und die globalen Wettbewerber werden nicht schlafen.
Stichwort: Silodenken. Wie kann ASE hier helfen?
Viele Unternehmen sind sich nicht bewusst, wie sich durch die Einführung neuer Technologien und Arbeitsweisen wie KI und Agilität die Wertschöpfung im Engineering verändert. Statt übergreifend zu denken, wird oft nur an Teillösungen für einzelne Fachbereiche gearbeitet. Unsere Studie "Advanced Systems Engineering" beschäftigt sich mit diesem Thema und zeigt den Wandel in der Wertschöpfung auf, sowie die Herausforderungen, die damit einhergehen.
Wir unterteilen den gesamten Produktentstehungsprozess in drei Felder: Advanced Systems, Systems Engineering und Advanced Engineering. Advanced Systems sind komplexe Produkte wie Autos, Waschmaschinen, Mähdrescher, Werkzeugmaschinen, Medizingeräte und autonome Fahrzeuge. Sie vereinen verschiedene Komponenten wie Mechanik, Elektronik und IT-Komponenten. Der zweite Aspekt, Systems Engineering, ist in vielen Unternehmen etabliert, jedoch wird er je nach Branche und Unternehmensgröße unterschiedlich umgesetzt. Unsere Analyse der Megatrends zeigt, dass eine Anpassung und Neuausrichtung der Entstehungsprozesse notwendig sind, um erfolgreich und gewinnbringend zu sein. Hierbei ist eine enge Zusammenarbeit von verschiedenen Fachgebieten wie Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften, Informatik, Soziologie, Psychologie und Arbeitswissenschaft notwendig. Das dritte Feld, Advanced Engineering, berücksichtigt die Umsetzung etablierter Engineering-Ansätze mit Kreativitätsmethoden, Agilität und digitalen Technologien. Hierbei werden Technologien wie KI, PLM, der digitale Zwilling und agile Arbeitsweisen genutzt, um die Entwicklung zu unterstützen.
Wie startet man mit ASE? Wo sollten Unternehmen beginnen?
Ein ganz aktueller Tipp: Tauschen Sie sich mit Wissenschaft und Industrie auf der Konferenz System:ability am 24. / 25. Mai 2023 in Paderborn aus. Hier gibt es praxisnahe Einblicke und Use Cases, wo ASE in der Industrie Nutzen schaffe.
Und im Allgemeinen sollten Betriebe sich auf die Bereiche konzentrieren, in denen die größten Probleme auftreten, wie z.B. hohe Fehlerquoten, lange Time-to-Market, schnelle Konkurrenz oder viele Iterationen. Es ist auch wichtig, über den Einsatz von mehr Digitalisierung und KI nachzudenken, unabhängig davon, ob es sich um Mähdrescher, Kaffeemaschinen oder Werkzeugmaschinen handelt. Es ist entscheidend, in Projekten alle beteiligten Interessengruppen einzubeziehen. Die IT ist immer dabei, da sie letztendlich die Strukturen und Systeme schafft, die alle Bereiche verbinden. Der Startpunkt sollte jedoch nicht auf ein Tool oder eine Software reduziert werden, obwohl dies häufig der Fall ist. Vielmehr geht es darum, ein Verständnis für den Wandel in der gesamten Wertschöpfungskette zu schaffen – entscheidend sind hierbei die involvierten Akteure. Bei ASE geht es daher mehr um ein Verändern des Mindsets als um ein dediziertes Tool.