Interview: Forschungsbereich Scientific Automation
In unserem Forschungsbereich Scientific Automation fokussieren wir neueste Methoden und Technologien der Automatisierungstechnik. Der steigenden Komplexität technischer Systeme begegnen wir mit virtueller Modellbildung und Simulation: So überprüfen und perfektionieren wir Prozesse digital, lange bevor sie real umgesetzt werden. Prof. Dr.-Ing. Ansgar Trächtler, Leiter des Fraunhofer IEM und Abteilungsleiter Dr.-Ing. Christian Henke geben einen Einblick in aktuelle Themen des Forschungsbereichs.
Der Forschungsbereich Scientific Automation bringt Automatisierungskonzepte aus der Wissenschaft in die unternehmerische Praxis. Was steckt genau dahinter?
Ansgar Trächtler: In der Automatisierungstechnik klafft im Technologietransfer eine auffällige große Lücke: Hier kommt das Fraunhofer IEM ins Spiel! Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam mit Unternehmen das nötige Know-how für Automatisierungslösungen aufzubauen. Gerade kleine und mittlere Unternehmen müssen oft mühsam Kapazitäten und Mittel dafür freimachen: Hier unterstützen wir mit pragmatischen Lösungen wie der Teilautomatisierung – und wir machen komplexe Technologien verständlich und anwendbar. Bestes Beispiel für diesen Transfer ist unsere Zusammenarbeit mit Düspohl rund um das Thema zuverlässige Künstliche Intelligenz, die wir dieses Jahr auf der Hannover Messe gezeigt haben.
Das Thema Trusted KI – also zuverlässige Künstliche Intelligenz – hat im Forschungsbereich enorm an Bedeutung gewonnen. Woher kommt der Bedarf, sich diesem Thema zu widmen?
Christian Henke: Der Schwerpunkt unserer Forschung hat sich von der klassischen Selbstoptimierung hin zu KI-Themen verlagert. Die Gruppe Trusted Machine Intelligence beschäftigt sich mit der Vertrauenswürdigkeit und Verlässlichkeit von KI-Systemen. Das hat zwei Gründe: Erstens stellen wir noch viele Forschungslücken in dem Thema fest. Außerdem sehen wir den großen Bedarf der Industrie: Unternehmen wollen KI-Anwendungen nutzen. Wenn die Technologie aber nicht stabil läuft, wird das Thema schnell ad Acta gelegt – und jede Menge Potenzial liegengelassen. Unser Ziel ist es, KI-Anwendungen stabiler und robuster zu machen. Das Schleifsystem RoboGrinder des Maschinenbauers düspohl kombiniert deshalb eine robuste Regelung mit Künstlicher Intelligenz und schleift damit 40 % schneller als herkömmliche Systeme. In dieser Kombination ist die Lösung eine absolute Neuheit! Zusätzlich forschen wir am Thema erklärbare Künstliche Intelligenz: es geht darum, Technologien besser zu verstehen und Vorbehalte zu nehmen. Unternehmen sollen KI als Chance erkennen und noch viel effizienter nutzen. Hierzu arbeiten wir im it’s OWL-Forschungsprojekt ExplAIn.
Warum sollten sich Unternehmen gerade heute mit Automatisierungslösungen beschäftigen?
Christian Henke: Natürlich zeigen die weltweite Pandemie oder aktuelle Handelskrisen die offenen Flanken vieler Branchen. Wir stellen uns derzeit mit vielen Unternehmen die Frage, wie wir mit Automatisierungstechnik Herausforderungen wie die Sicherstellung von Lieferketten, die Optimierung von Produktionsressourcen oder Arbeitskräftemangel begegnen können. Dabei werden unsere Lösungen auch für neue Branchen wie die Lebensmitteltechnik interessant.
Ansgar Trächtler: Eine weitere Herausforderung langfristiger Natur ist das Thema Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz: Unternehmen müssen in Zukunft zuverlässig nachweisen können, welchen CO2-Fußabdruck nicht nur ihre Produkte, sondern ihre gesamte Wertschöpfung verursachen. Für Unternehmensstrategie bedeutet dies, die Themen Unternehmertum und Gemeinwohlorientierung noch stärker zu vereinen. Unternehmenslenker:innen müssen sich der globalen und langfristigen Auswirkungen des eigenen Wirtschaftens bewusst werden.
Ziel unseres Robotics Lab ist es, Unternehmen Lösungen der Automatisierung vorzustellen und gemeinsam eigene Konzepte zu entwickeln. Wie ist das Feedback der Industrie?
Ansgar Trächtler: Die Infrastruktur des Robotics Lab wird gern angenommen – insbesondere von Unternehmen, die sich erst an das Thema Automatisierung herantasten. Wenn es um massive Neuerungen und Investitionen in Produktionsmittel und -technologien geht, gilt es sorgfältig zu prüfen, ob Automatisierung im Einzelfall wirklich wirtschaftlich ist. Unser Robotics Lab gibt deshalb Einblicke in verschiedenste Anwendungsfälle und macht den Nutzen der Automatisierung deutlich. Nichts überzeugt mehr als eine gelungene Live-Vorführung! Und mit wenig Aufwand gelangen Unternehmen dann zu einem einen ersten Proof of Concept ihrer eigenen Automatisierungskonzepte.
Welche Projekte werden im Robotics Lab umgesetzt?
Christian Henke: Wir erforschen ein breites Themenspektrum, hier nur zwei Beispiele: Zum einen ging es im Forschungsprojekt TALENTED um die Automatisierung einer hochgradig individualisierten Fertigung aus dem Bereich Schweißen. Unsere Lösung ist eine teilautomatisierte sensorgeführte Robotik mit Low-code-Programmierung. Das sehr flexible Einrichten ohne besondere Programmierkenntnisse macht das Schweißsystem insbesondere für mittelständische Betriebe interessant. Zum anderen arbeiten wir im Robotics Lab auch an Lösungen für die Massenfertigung. Hier konnten wir mit einem Unternehmen aus der Lebensmitteltechnik an der Automatisierung seiner besonders schnellen und dynamischen Prozesse arbeiten. In diesem Kontext ist auch unser Forschungsprojekt SensoBack zu nennen, in dem wir eine Cloudanbindung für die Kleingebäcksproduktion zur Vermeidung von Ausschuss und Überproduktion erarbeitet haben.
Auch die Automobilindustrie ist ständig auf der Suche nach Potenzialen der Automatisierung …
Ansgar Trächtler: … und auch hier ist das Fraunhofer IEM wertvoller Kooperationspartner. Mit dem Automobilzulieferer HELLA blicken wir beispielsweise auf eine langjährige Kooperation zu innovativen Scheinwerfertechnologien zurück. Was in 5 Jahren auf dem Markt eingeführt werden soll – daran forschen und entwickeln wir heute gemeinsam. Aktuell arbeiten wir im Verbundprojekt RoSSHAF gemeinsam daran, Fahrzeugsensorik für hochautomatisiertes Fahren widerstandsfähiger gegenüber Wetter und Verschmutzung zu gestalten. Insbesondere unsere Methoden des Model-based Engineering und Virtuellen Testens kommen hier zum Einsatz.
Automatisierungstechnologien liefern auch Lösungen für die Herausforderung Nachhaltigkeit. Gibt es hier konkrete Projekte?
Christian Henke: Im Projekt DENERGETIC entwickeln wir ein intelligentes Energiemanagement-System mit der Leitfrage: Wie kann man innerhalb einer ganzen Siedlung der Energieverbrauch bestmöglich ressourceneffizient managen? Wichtig ist dabei ein ganzheitlicher Ansatz. Von der Stromproduktion, über den Lieferanten bis hin zu den Privathaushalten muss das System Energie als Ganzes gedacht werden.
Ansgar Trächtler: Grundsätzlich diskutieren wir viel mit Unternehmen, wie sie den Aspekt Nachhaltigkeit in ihre Wertschöpfung integrieren können. Beispielfrage: Wie können Sie ihre Produkte, Materialien und Produktionsprozesse so konzipieren, dass Reparatur und Austausch einzelner Teile wieder möglich ist? Großes Interesse haben wir etwa am Konzept des Digitalen Grünen Zwilling: Zusammen mit HELLA wollen wir erforschen, wie man Energiebedarfe während der Produktentstehungsphase und über den gesamten Produktlebenszyklus abbilden kann.
Ein Blick über den Tellerrand: Gibt es neue Anwendungsfelder für den Forschungsbereich Scientific Automation?
Christian Henke: Die Mensch-Maschine-Interaktion ist beispielsweise ein Feld mit zahlreichen neuen Anwendungsfeldern etwa im Bereich Assistenz und Service oder auch für Pflege und Privatanwendungen. Unsere Robotiklösungen sollten flexible und resiliente Produktionssysteme ermöglichen. Auch die Themen Robotik am Bau und Robotik in Kombination mit Fahrerlosen Transportsystemen sind extrem spannende Forschungsfelder. Es gibt also viel zu tun!